Altbekanntes mit neuen Augen sehen
Der deutsche Maler Kurt Schiering starb im März des Jahres 1918 auf einer Tour durch die Bergmassive der Kordilleren von Cerro Doña Ana und Las Tórtolas. Für den Deutschen (1886-1918) aus Markranstädt, einer Kleinstadt vor Leipzig, war es das tragische Ende eines kunsterfüllten Lebens.
Von Andreas Schaaf
Kurt Schiering kann als einer der herausragenden künstlerischen Interpreten chilenischer Landschaften bezeichnet werden. Die Zeitung Cóndor erinnerte bereits im März und September 2016 an sein Wirken als einen «embajador de arte», wie die Zeitschrift «zig zag» 1917 aus Santiago einst lobend titulierte. Mit zwei herausragenden Bildwerken aus der Palette Schierings beschäftigte sich die Cóndor-Zeitung: mit der Cumberland-Bucht vom Juan-Fernández-Archipel sowie den Santiago de Chiles Horizont bekrönenden Cerro del Plomo.
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Als Reisekorrespondent des bekannten Leipziger Traditionsverlags «Illustrirte Zeitung» brach der durch Europareisen und Abstecher nach Ägypten, Syrien und Palästina erfahrene Kurt Schiering 1913 nach Südamerika auf. Die international renommierte Zeitung plante für das Jahr 1915, ihren Lesern die südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien und Chile in Sonderausgaben vorzustellen.
Schierings südamerikanisches Oeuvre, das zunächst Brasilien sowie Argentinien umfasste, war nicht nur illustrativ und nuancenreich. Seine unablässige Neugier besonders in Brasilien befähigte ihn, als ein künstlerischer Chronist auch wirtschaftlicher Abläufe tätig zu sein, zeichnete und malte er doch Verladearbeiten im Hafen von Santos genauso wie Tätigkeiten auf den brasilianischen Kaffee- und Zuckerplantagen sowie bei der Baumwollernte.
Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges von seiner deutschen Heimat abgeschnitten, kam der 29-jährige Kunstkorrespondent auf eigene Faust im November 1914 über Argentinien nach Chile.
Berauschende Landschaften als Motiv für seine Bilder
Auftragsgemäß suchte Kurt Schiering seine malerischen Sujets und fand sie zunächst in den berauschenden Landschaften im Süden des Landes. Der Maler erfasste in seinem künstlerischen Feingefühl das Kolorit dieser lieblichen Gegenden der sogenannten chilenischen Schweiz.
Per Eisenbahn und auf Pferden hatte er das Land durchstreift. Ganz so, wie es ihm mit Unterstützung deutscher Freunde, aber auch von Seiten offizieller Stellen ermöglicht wurde, weilte er im Süden genauso wie in der Landesmitte sowie im nördlicheren Teil. So ist es heutigen Kunstinteressierten möglich, anhand der verbliebenen Werke grandiose Eindrücke in die chilenische Naturvielfalt zu gewinnen. Die Leser der «Illustrirten Zeitung» waren von den großformatigen Farbwiedergaben beeindruckt.
Ein eigenes Atelier in Santiago de Chile
Schiering kam nach Aufenthalten in Puerto Montt, Valdivia, Temuco und Valparaíso in die Hauptstadt Santiago. Hier beeindruckte den Künstler das Flair der europäischen Belle Époque. Öffentliche Bauten wie der Zentral- und Mapochobahnhof erinnerten Schiering ebenso an den Pariser Glanz seiner Kunststudentenzeit an der Kunsthochschule, École des Beaux Arts, sowie an die Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig. Durch wirtschaftlich einträgliche Kunstverkäufe konnte er ein eigenes Atelier halten. Seine Schaffenspalette reichte von Landschaftsmalereien über Porträts seiner begüterten Klientel bis hin zu Theatervorhängen oder industriellen Studienarbeiten.
An die 200 Bildwerke, Skizzen, Zeichnungen, Aquarelle inklusive chilenischer Impressionen zeugten von Schierings künstlerischen Aktivitäten in Südamerika. Ausstellungen – darunter in Puerto Montt wie auch Santiago – hoben seinen Ruf. Auf einer Leipziger Vernissage waren 1922 in aufwühlender Erinnerung an sein kurzes Lebenswerk allein 160 Bildschöpfungen über Argentinien, Brasilien und Chile zu sehen. In seiner deutschen Heimat lobte man ihn als einen «Pionier der Kunst», der sich um die Malkultur in Chile und chilenischer Landschaftsmalerei verdient gemacht hatte.
Einige seiner Werke befinden sich in Chile und in Deutschland privat oder institutionell in guten Händen. Eine exakte Zahl seines Schaffens lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Viele Bilder dürften in der Leipziger Bomben- und Brandnacht im Dezember 1943 zerstört worden seien. Weitere gelten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf mysteriöse Weise verschollen.
Ein Ausflug mit tödlichem Ende
Zurückgekehrt von einer Malreise in den chilenischen Norden bei den Calicheras und Salitreras der Atacama-Region zog es Kurt Schiering am 6. März 1918 zusammen mit drei deutschen Bergkameraden erneut in die Kordilleren. Das zauberhafte Elquital sollte der Ausgangspunkt einer schönen Wanderung zu den faszinierenden Baños del Toro auf etwa 3.440 m Meereshöhe sein.
Ob sein Tod dort durch die Höhenkrankheit verursacht wurde oder ob es eine Lungenentzündung nach einem heißen Bad in der Naturtherme war, konnte nie geklärt werden. Eine Grabstätte erinnert noch heute dort mit dem Satz: «Hier liegt in fremder Erde der deutsche Maler Kurt Schiering.»
Man kann ein Land bereisen, man kann es aber auch «mit neuen Augen sehen», wie der französische Schriftsteller Marcel Proust feststellte. Altbekanntes mit neuen Augen zu sehen ist durch die verbliebenden Werke Schierings möglich.