Liebeserklärung an einen Stadtteil
Neulich radelten meine beiden Söhne und ich zum Haus von Nicanor Parra. Die letzten Meter hinauf zur Straße Julia Bernstein mussten wir die Drahtesel schieben, so steil ging es bergaufwärts. Der vor Kurzem verstorbene Antipoet soll Ende der 50er Jahre ganz bewusst dort oben in La Reina seine Residenz gekauft haben. Damals weitab vom Lärm und Rummel Santiagos gelegen, fast schon ein wenig in den Bergen versteckt, nicht so leicht zugänglich.
Seit sechs Jahren wohnen wir in La Reina, und ich finde, dass sich dieser Stadtteil etwas von dieser Ruhe und liebenswürdigen Entlegenheit bewahrt hat. Hochhäuser sind aufgrund eines restriktiven Bebauungsplanes praktisch kaum präsent. Stattdessen prägen Einzelhäuser das Bild, hier und da adrett verziert mit hübschen Gärten, oft aber auch versteckt hinter üppig wuchernden Palmen und Büschen.
La Reina ist ein grüner Stadtteil, und das gibt ihm in der riesigen Metropole Santiago fast schon einen ländlichen Charakter. Wenn im Winter starker Regen herunterprasselt, sich unsere Straßenecke Santa Rita mit Echeñique in einen Teich verwandelt und dann auch immer mal wieder der Strom ausfällt, sitzen wir zusammen bei Kerzenschein anstatt vor dem blöden Fernsehprogramm.
La Reina ist auch kein reicher Stadtteil. Einen solch schönen gepflegten Park wie der Juan Pablo II in Las Condes gibt es nicht. Doch der Parque Padre Hurtado kommt dafür gelassener daher. Das Gleiche dürfte für die Einwohner von La Reina gelten: Zwar erahnt man versteckt hinter hohen Zäunen teure Anwesen, doch das ist eher die Ausnahme. Insgesamt strahlen die Häuser in La Reina eine gutbürgerliche Mitte aus. Und zwischendurch sieht man auch immer mal wieder verlassene Bruchbuden, die auf einen Käufer warten und unberührt vor sich hinvegetieren. Vergänglichkeit kann auch ihren Charme haben.
Jogge ich sonnabends- oder sonntagsmorgens durch La Reina, ist der Stadtteil wie ausgestorben. Kein Auto, keine Menschenseele. Hier gibt es praktisch keine Discotheken und Nachtleben, das Bier nehme ich nachmittags in unserer Hängematte liegend ein, während auf der Terrasse der Asado bruzzelt. La Reina – das ist für mich auch Gemütlichkeit und ein Entschwinden von der Hektik der Großstadt.
Hier habe ich hier schon liebenswürdige Bekanntschaften geschlossen. Da ist die ältere Dame aus Valdivia, die in der Botillería in Monseñor Edwards Zigaretten kauft und sich mit mir auf Deutsch unterhält. Merkwürdigerweise habe ich auch einen schizophrenen Mann aus der Nachbarschaft kennen gelernt, der mich mal freundlich mit «mi alemancito» stürmisch begrüßt und am anderen Tag kaltschnäuzig ignoriert. Das Team der Botillería weiß dagegen gut Bescheid: Da kommt der «rubio», der immer das deutsche Importbier kauft.