Von Walter Krumbach
Aufnahmeprüfung in der Thomasschule Leipzig. Thomaskantor Georg Christoph Biller empfängt einen Kandidaten und seine Mutter. Der Junge ist keine zehn Jahre alt. «Biste aufgeregt?», fragt er freundlich. «Ja, ein bisschen», kommt die schüchterne Antwort. «Och, brauchste nicht», beruhigt ihn der Thomanerchorleiter, setzt sich ans Klavier und schlägt einige Tasten an. «Eine Oktave, Tritonus», errät der kleine Anwärter, während fünf todernste Gestalten, die im Hintergrund sitzen, sich Notizen machen.
Die Anfangssequenz des Films, der anlässlich des 800. Jubiläums des Leipziger Thomanerchors gedreht wurde, deutet an, dass im Folgenden nicht nur Glanz und Gloria des berühmten Chors über den Bildschirm gehen werden, sondern auch die Mühen des Alltags. Und die sind in diesem Fall zahlreich.
«Gestern musste ich zweimal weinen», gesteht zum Beispiel der Zehnjährige Cornelius, «ich hatte großes Heimweh». Die Chorproben sind fordernd. Biller ist unzufrieden, seine Miene verfinstert sich zusehends, bis ihm die Geduld ausgeht: «Ihr müsst euch ein bisschen fixer anstellen, und zwar heute!», schimpft er. Im Interview kurz darauf versichert er, dass die böse Maske bei den Sängern positive Reaktionen auslöst, die sich dann in deren Leistungen widerspiegeln.
Die Dokumentation verfolgt die Arbeit und das Zusammenleben der Thomaner im Internat ein Jahr lang. Die Stubenältesten beaufsichtigen die ihnen zugeteilten Jüngeren. Sie kontrollieren nicht nur die Reinlichkeit der Fingernägel ihrer Zöglinge, ob ihre Schuhe geputzt sind oder die Kleidungsstücke richtig sitzen, sondern bilden eine administrative Einheit, die eine klare Aufgabenverteilung hat. Der Einblick in das Alumnatsleben veranschaulicht verschiedene Tätigkeiten, wie den Lateinunterricht, die Beschäftigung mit Sport und Spiel und sogar eine Kissenschlacht im Schlafzimmer.
Dreh- und Angelpunkt der Dokumentation ist das musikalische Geschehen im Internat. Sebastian (17) spielt in der Leipziger Lutherkirche ein beeindruckendes Orgelsolo. Jede Woche wird für den kommenden Gottesdienst eine Bach-Kantate einstudiert und zusätzlich die Südamerika-Tournee vorbereitet. Die Jungen werden geimpft, singen vor, warten gespannt auf die endgültige Besetzungsliste. In São Paulo, Montevideo und Buenos Aires führen die Leipziger Bachs h-Moll-Messe auf. Unmittelbar vor dem Auftritt im Teatro Colón spornt sie Biller mit einer Rede an. Die Ausschnitte der Aufführung in dem einmaligen Theater bezeugen das superbe Niveau des Ensembles.
Zu Heiligabend nehmen die Thomaner am Weihnachtsgottesdienst teil. Danach ist im Alumnat Bescherung und in der Nacht gehen sie in kleinen Gruppen auf die Straßen. Mitten im Schneesturm singen acht Mann «Es ist ein Ros entsprungen» und nehmen von der Nachbarschaft Dankbarkeitszeugnisse entgegen. Erst am nächsten Tag fahren die Kinder heim, um mit ihrer Familie zu feiern.
Viel Arbeit entsteht auch in der Osterzeit, für die sie Bachs riesenhafte Matthäuspassion einstudieren. Die ständige Beziehung zur Religion wirkt sich auf die Knaben aus. In den neun Jahren prägt sie die Chorgemeinschaft intensivst. Nach dem Abitur sind sie entlassen und dieses einmaligen Umfelds beraubt. So macht es Sinn, dass einer der 18-Jährigen bei der Abschiedsfeier ganz nasse Augen bekommt.
Ein überaus empfehlenswerter Film, der neugierig aber mit Feingefühl hinter die Kulissen einer 800-jährigen Einrichtung schaut.
Als Extras lassen sich zwei Nummern von Bachs Matthäuspassion einschalten, der Eingangschor «Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen» und die Altarie «Erbarme dich», während einer Aufführung in der Thomaskirche mitgeschnitten. Im Beiheft findet sich ein Aufsatz über die Geschichte des Thomanerchors.
«Die Thomaner», Deutschland, 2012. Regie: Paul Smaczny, Günter Atteln. Spieldauer: 113 Min.
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Darbietung *****
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