Buchkritik zu «Desastres – guía para sobrevivir» von Raúl Sohr
Der Journalist Raúl Sohr gibt Ratschläge für Katastrophenfälle in Chile. Einige Überlebenstipps sind allerdings banal, manche Gefahren wirklichkeitsfremd.
Von Arne Dettmann
Vielleicht war es der Bericht des weltweit größten Rückversicherers Munich Re, der 2017 als das teuerste Jahr in der Geschichte der Versicherungen bezeichnete. Hurrikans und andere Naturkatastrophen kosteten der Branche weltweit rund 135 Milliarden Dollar. Vielleicht war es aber auch der Internationale Währungsfonds (IWF), der im vergangenen Jahr vor neuen Flüchtlingsströmen durch den Klimawandel warnte. Fest steht: Katastrophenmeldungen häufen sich, und das mag der österreichisch-chilenische Journalist Raúl Sohr zum Anlass genommen haben, einen Überlebensratgeber für Chile mit dem sensationsheischenden Titel «Desastres – guía para sobrevivir» herauszugeben.
In zehn Kapiteln schildert der Autor die Gefahren: Erdbeben und Tsunamis wie im Februar 2010, Vulkanausbrüche wie der beim Chaitén im Jahr 2008, verheerende Waldbrände wie Anfang 2017 oder auch Starkregen, Überschwemmungen und Erdrutsche, die 2015 Nordchile heimsuchten und im Dezember 2017 Teile der Ortschaft Santa Lucía in Patagonien unter sich begruben.
Der Autor gibt für jeden Katastrophenfall Tipps und Hinweise, wie man sich schützt. Mal geschieht das sehr kenntnisreich: Wen ein Tsunami an Bord eines Schiffes überrascht, fährt weiter aufs Meer hinaus, um der Monsterwelle am Strand zu entgehen. Mal durchaus praxisnah: Bei Waldbränden die Fensterritzen mit nassen Lappen zustopfen, um den Eintritt von Rauch zu verhindern. Manchmal aber selbst ein wenig hilflos: Wer in einer Krisensituation nachts nicht schlafen konnte, sollte das mit einer Siesta nachholen. Denn Schlaf sei wichtig, so der Journalist – und zählt die Folgen von Schlafentzug bei Soldatenexperimenten auf.
Tief durchatmen, nicht in Panik verfallen
Dazu gibt es Schaubilder über die Windstärken auf der Beaufortskala und die Zerstörungskraft von Erdbeben. Gut einmal gesehen zu haben, denkt der Leser und blättert weiter. Wenn es aber wirklich einmal kräftig wackelt, hilft die Richterskala auch nicht weiter, sondern höchstens der gut gemeinte Ratschlag auf Seite 40: Tief durchatmen und nicht in Panik verfallen.
Wer einen detaillierten Überlebensratgeber erwartet, wird enttäuscht. Zwar listet Raúl Sohr den Inhalt eines Erste-Hilfe-Kastens auf. Aber mit welchem Nähstich man eine Zeltplane repariert und wie in einer Hungersnot eine Heuschreckenmahlzeit zubereitet wird, wären dann wohl doch Themen für eine weiterführende Fachliteratur.
Sohr liefert – wie gewohnt – sehr fundiert und anschaulich Fakten. Umso mehr wundert es, dass der Journalist von solchen lesenswerten Büchern wie «Chao, petróleo», «Chile a ciegas» und «Así no podemos seguir» nun so eine kleine, triviale Survival-Fibel publiziert hat. An vielen Textstellen merkt der Leser, dass mehr drinnen gewesen wäre. Sohr kritisiert die Wasserversorgungslage von Santiago, die schon mehrmals bei Regenfällen in den Anden zusammengebrochen ist. Das wäre vielleicht der eigentliche Stoff für ein gutes Recherchewerk gewesen: Inwieweit ist Chile, das immerhin im Welt-Risiko-Index der Naturkatastrophen ganz weit oben auf Platz 22 von 171 Staaten landet, tatsächlich auf Krisen vorbereitet?
Stattdessen kommt es zu merkwürdigen Stilblüten. So thematisiert Raúl Sohr die Gefahr von Meteoriten. Kommt es zu einem Einschlag, dann weg von den Fenstern und schnell hinter eine schützende Mauer, lautet hier der gut gemeinte, aber doch nutzlose Ausweg. Denn im gleichen Atemzug räumt der Autor ein, dass es bei einem fatalen Steinschlag aus dem All zu einem sogenannten nuklearen Winter kommt, einer Verdunkelung und Abkühlung der Erdatmosphäre, wobei alles Leben ausgelöscht wird.
Lebensfremd und willkürlich
Lebensfremd kommen auch die Hinweise bei Kriegen, Bürgerkriegen und Terroranschlägen daher: Fernhalten von militärischen Zielen, große Menschenmengen meiden und möglichst aufs Land fliehen. Aha! Wer im abgelegenen Patagonien lebt, für den mag das gelten. Bürger in Syrien oder auch Fahrgäste in der völlig überfüllten Metro von Santiago haben es da schon deutlich schwerer.
Letztendlich erfolgt die Auswahl der Gefahren willkürlich. Die beiden kleinen Versuchsreaktoren in Chile mögen zwar reale, atomare Bedrohung darstellen, doch fragt sich, ob die Fokussierung auf solche Katastrophenpotenziale nicht die Wirklichkeit verzerrt. In Chile kommen jährlich mehr als 1.600 Menschen bei Verkehrsunfällen um Leben – bei den verheerenden Waldbränden waren es zehn. Wäre ein Kapitel mit Sicherheitshinweisen zum Straßenverkehr nicht angebracht gewesen?
Und von den mehr als 100.000 Sterbefällen im Jahr in Chile sind etwa die Hälfte auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs zurückzuführen. Auch hier besteht offenbar noch reichlich Bedarf an Überlebenslektüre, allerdings jenseits von Blitzeinschlägen und Meteoritenaufprall.
[box style=»rounded» border=»full»]Desastres – guía para sobrevivir
Raúl Sohr
Penguin Random House, 2017
Santiago de Chile
170 Seiten
ISBN: 978-956-9545-66-5 12.000 Pesos[/box]