Entdeckungstour ohne Reiseführer, aber mit viel Neugier
Von Michael Köbrich
Den Anfang meiner Laufstrecke machte ich beim zentral gelegenen Cerro Santa Lucia. Laut Gemeindeinfo der meistbesuchte Park in Santiago. Der Name bezieht sich auf eine blinde Heilige.
Der Santa Lucía, eine künstlich angelegte Grünfläche im Stadtkern, ist nicht sehr groß und leicht überschaubar. Ein guter Start ergibt sich von der Alameda Bernardo O´Higgins aus, wo sich ein schönes Barockportal mit dem prunkvollen Neptunspringbrunnen befindet. Auf diesem Berg wurde Santiago vor weniger als 500 Jahren vom spanischen Eroberer Pedro de Valdivia gegründet (1541).
Dieser Ort war für lange Zeit nur eine unbeachtete Felsgruppe, die die östliche Grenze der Stadt festsetzte. Auf der Spitze befand sich eine kleine Festung mit Verteidigungsanlagen aus den Jahren der Freiheitskämpfe gegen die spanische Krone. Diese mussten aber nie eingesetzt werden und sind heute noch teilweise erhalten.
Dieses Panorama änderte sich Ende des 19. Jahrhundert, als ein junger und tatkräftiger Bürger dieser Stadt, später auch angesehener Politiker und Stadtgouverneur, Benjamín Vicuña Mackenna, diesen verachteten Ort mit viel Aufwand und persönlichem Engagement in einen Park im französischem Stil verwandelte. Die Stadtmodernisierung war fällig und die feine Gesellschaft jener Zeit brauchte ein Standort für ihren Zeitvertreib.
Der Anfang um 1870 war sehr aufwändig, da Sträflinge viel Erde anschaffen mussten, um die vielen Felsen und Brocken aufzufüllen. Heutzutage findet man einen gepflegten Hügelpark mit viel Grün vor: Verschiedene Baumarten, Büsche und Blumenbeete, aber auch viele Treppen und Spazierwege, auf denen man bis zur Spitze hochlaufen kann, wo man in ungefähr 80 Meter Höhe auf die Reste der kleinen Festung stößt. Wenn die Luftverschmutzung nicht zu stark ist, wird man mit einer guten Aussicht auf Santiago belohnt.
Auf halber Höhe befindet sich die Caupolicán-Terrasse, ein ausgedehnter Aufenthaltsplatz, wo es auch einmal ein Café und Restaurant gab. Dieser Platz sollte von den Damen der Oberschicht leicht zu erreichen sein, weshalb ein Spazierweg ohne Stufen angelegt wurde, um die langen und empfindlichen Kleider zu schützen. Der «Subida Las Niñas» ist aber momentan nicht zugänglich, da er vom letzten Erdbeben stark beschädigt wurde.
Kanonenknall und alte Gräber
Es gibt noch andere Sehenswürdigkeiten wie das Castillo Manuel Hidalgo, eine alte Kaserne, früher auch eine Haftanstalt und bis vor zwei Jahren ein Eventcenter. Es ist leider nicht zu besichtigen. Hier muss die Stadtgemeinde über die Zukunft dieser Einrichtung eine Entscheidung treffen: entweder ein Stadtmuseum oder Restaurant. Übrigens: Sogar eine Sternwarte gab es hier oben einmal.
Einzigartig ist der tägliche 12-Uhr-Kanonenknall! Aus Umweltgründen wurde er gelegentlich eingestellt, doch diejenigen, die ihn abschaffen wollten, haben letztlich auch ein Wiedereinstellen gefordert. Es ist schon eine laute Gewohnheit, nach der man die Uhr stellen kann. So etwas ist im Digitalalter nicht mehr nötig, doch vor 100 Jahren, schien es angebracht zu sein.
Besonders aufgefallen sind mir auch zwei Denkmäler. Auf beiden sind klassische Frauenfiguren zu erkennen. Unter alten Akazien und Pfefferbäumen auf der Ostseite des Berges erkennt man eine dieser Statuen als den «Heimatlosen und Ungläubigen» gewidmet. Auf den ersten Blick scheint das nichts Sonderbares zu sein, doch hier wurden auch einige Protestanten – «Seelenlose» in der damaligen Zeit – und alle, die in Ungnade gefallen waren, unrechtsmäßig begraben. Für sie gab es seitens der katholischen Kirche kein Platz auf dem öffentlichen Stadtfriedhof Cementerio General. Bei Renovierungsarbeiten des Santa Lucía sind auf dieser Bergflanke auch mehrere Gräber gefunden worden.
Auf der Plakette des zweiten Frauendenkmals, das sich auf der Südostseite längs der Alameda B. O`Higgins befindet, kann man Folgendes lesen: «Dankspende des Deutschen Volkes 1951» (auf Spanisch: Tributo de Gratitud del Pueblo Alemán). Schwer zu erfahren, um was für eine Dankspende es hier ging.
Außergewöhnlich und nicht zu übersehen ist die Statue, die dem heldenhaften Mapuche-Häuptling Caupolicán gewidmet ist. Er sieht aber ganz wie ein Mohikaner aus, der gar nicht in die chilenische Geschichte passt und eher eine Beleidung für diese Volksgemeinschaft ist. Ein unglaublicher Fehler, der heute wohl den Wenigsten auffällt. Ein Fremdenführer behauptete sogar, dass man im Central Park von New York angeblich die gleiche Statue finden kann.
Auch der spanische Eroberer Pedro de Valdivia ist hier aufgestellt. Sein Gesicht fällt nicht besonders auf, doch nach geschichtlichen Recherchen gibt es von ihm weder Porträt noch sonstige Beschreibungen. Es wurde ihm schlicht und einfach das Gesicht vom Don Quijote zugefügt, eine Hauptfigur der spanischen Literatur.
Das Barrio Lastarria
Vom Nordeingang aus (Straße Merced Ecke José Manuel de la Barra) laufe ich weiter in Richtung Osten, um zum benachbarten Viertel Barrio Lastarria zu gelangen.
Dieses Künstlerviertel besteht aus einer etwas ruhigeren Hauptstraße (Jose Victorino Lastarria), die sich von der Alameda B. O´Higgins bis nach Merced erstreckt und zum Teil auch Fußgängerzone ist, plus ein paar Querstraßen, in die man hineinschauen sollte, um versteckte Cafés zu finden. Man bewegt in einer Umgebung mit anregenden Restaurants und Kneipen.
Im Mittelpunkt der Nachbarschaft befindet sich die Kirche Iglesia de la Vera Cruz, eine moderne Kunstgalerie (Mavi), das Kino «El Biógrafo» und der Platz Pintor Mulato Gil de Castro. Ein Trödelmarkt mit viel Sammelsurium ist auch an einigen Tagen präsent.
Die Fassaden und Häuser vermischen Stile und Bauarten. Etwas französischer Stil, ein Hauch von Neoklassik und die Moderne aus den 60er Jahren. Ein namhafter Architekt früherer Jahre, Luciano Kulsewski, hat auch mehrere Häuser in Lastarria entworfen. Sie sind unverkennbar und verschönern den Anblick. Hier lohnt sich unbedingt ein abendlicher Bummel, um das lockere Ambiente zu genießen. Und wenn es mal zu spät werden sollte, gibt es auch genügend Hotels in der Gegend.
Zurzeit wird an einigen Ecken das Straßenpflaster renoviert, was das Schlendern etwas erschwert. Auffällig sind Plakate, die an verschiedenen Wohnungen hängen und um die notwendige Nachtruhe plädieren! (Gracias por bajar el volumen; vecinos descansando!) Fazit: Wir leben in einer lauten und rücksichtslosen Stadt!
Gleich nebenan in Sichtweite liegt das Centro Cultural Gabriela Mistral, von Lastarria schnell zu erreichen. Dieses ist das größte Kulturzentrum der Hauptstadt, wo es ständig was zu sehen, zu hören und zu kosten gibt. Bekannt unter der Abkürzung GAM sind andauernd Ausstellungen zu bewundern. Hier wird demnächst ein beachtliches Theater eingeweiht, ein neues Kulturgut für die Metropole, die schon einiges auf diesem Gebiet vorzeigen kann.
Der Parque Forestal
Von Lastarria gelange ich schnell zum bekannten Parque Forestal Rubén Darío, ein bedeutender Dichter aus Nicaragua, der auch in Chile gelebt und geschrieben hat. Diese Grünfläche dehnt sich von Plaza Italia bis zum Knotenpunkt Estación Mapocho aus und ist circa zwei Kilometer lang und breit genug, um sich dort angenehm aufzuhalten und dem Stadtlärm zu entrinnen.
Auf Höhe der José M. de la Barra liegt das Nationale Museum der Schönen Künste, auf Spanisch Museo de Bellas Artes, ganz im französischen Stil gebaut. Es gleicht in verkleinerter Kopie dem Petit Palais Museum in Paris. Hier gab es sogar einen Teich, der gut in den Park passte, aber wegen Verschmutzung das Jahrhundert nicht überlebte. So ein übler Mief hat nicht in diese schicke Umgebung gepasst, in der heute die vielen Art-déco-Gebäude renoviert wurden und gepflegt aussehen. Dieses Viertel ist eine gehobene Wohngegend.
Von der José Manuel de la Barra gelangt man auf die nahe gelegene Straße Mosqueto. Hier fällt eine groß bemalte Fläche mit einem kunstvollen Frauenporträt ganz besonders auf. Am Eingang zur Metro-Station Bellas Artes beeindrucken auch zwei bunte Grafittigesichter als Ausdruck von Straßenkunst.
Die Plaza de Armas
Ich ziehe weiter in Richtung Stadtzentrum zur Plaza de Armas, ein «Waffenplatz» aus der spanischen Gründerzeit, zu Fuß nicht weit entfernt vom Santa Lucía. Es ist der zentrale Treffpunkt der Metropole, umringt von Kathedrale, Rathaus, Postgebäude und ein Museum für Landesgeschichte.
Renovierungsbedürftige Arkadengallerien voll mit Imbissbuden und sonstigen Billigläden ergänzen den Rahmen dieses Ortes. Hier nimmt auch in Richtung Süden die erste Fußgängerzone Santiagos aus den 70er Jahren ihren Anfang, der Paseo Ahumada, eine Akazienallee. Viele belebte und interessante Galerien mit einer Vielfalt von Läden liegen zur linken und rechten Hand.
In diesem Umkreis tummeln sich viele Menschen aus anderen Ländern, lebhaft, laut und gesprächig; eine Atmosphäre als ein Ergebnis einer steigenden Migration nach Chile. Die Gesellschaft wandelt sich, und das ist ein unbestrittenes Zeichen dieser Zeit. So etwas spiegelt sich im Stadtbild wider, und so entsteht zum Beispiel «Klein Lima», eine Welt für sich gleich neben der Kathedrale. Hier ist alles zu finden, was diese Landesbürger benötigen, wie zum Beispiel eine schnelle Zahnbehandlung bis zu billigen Flugtickets nach Peru. Ein reichhaltiges Gastroangebot gehört auch dazu.
Die Kathedrale und benachbarte historischen Gebäude sind immer zu besichtigen, und ein Blick ins Innere lohnt sich genauso wie ein amüsanter Plazatrip. Ganz in der Nähe befindet sich auch das gut erhaltene neoklassische Gebäude des ehemaligen Landesparlament, der Congreso Nacional, ein stilvoller, Bau der an die ersten Jahre der Republik erinnert.